Eine menschlichere Linie?
Wie oft hat man schon gehört, dass bestimmte Arten von Zeichnungen „menschlicher“ sind? Die von Hand gezeichnete und wackelige Linie, die Fehler, Pannen, der gescheiterte Versuch der Perfektion. Diese Unregelmä- ßigkeiten werden als menschlicher interpretiert, weil wir als Menschen un- vollkommen sind, und daher müssen diese stammelnden Formen logischer- weise repräsentativer für uns sein. Nur Linien, die durch die menschliche Hand bereichert wurden, können Charakter und Emotionen vermitteln und sind zweifelsohne ein einzigartiger Ausdruck des menschlichen Daseins.
Doch wenn wir diese handgezeichnete Linie genauer betrachten, können wir uns auch die Frage stellen: Ist sie wirklich so einzigartig menschlich? Wo haben wir so etwas schon einmal gesehen? Könnten wir nicht einen ähnlichen Verlauf entlang des Stängels einer Pflanze, der Spur eines Tieres, den Rissen in einer Felswand nachzeichnen? Je mehr man darüber nach- denkt, desto mehr findet man diese „menschlichen“ Linien überall, vom Grund des Ozeans bis zur Marsoberfläche. Wie kann also etwas, das so allgegenwärtig und so unabhängig von unserer Existenz ist, den Anspruch erheben, so wesentlich „menschlich“ zu sein?
Wenn wir von oben auf die Erde blicken würden, wo würden wir anfan- gen, nach Anzeichen für menschliches Leben zu suchen? Würden wir den Verlauf eines Flusses oder die Konturen eines Berges als Beweis für unsere Existenz ansehen? Oder würden wir eher nach etwas suchen, das der Geometrie ähnelt? Oder vielleicht sogar nach dem seltensten aller Dinge, der perfekten geraden Linie.
Shawn Stipling
aus dem Englischen übersetzt von Juliane Rogge
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A Line More Human?
How many times have you heard it said that certain kinds of drawing are ‘more human’? The hand drawn and wavering line, the mistakes, glitches, the failed attempt at perfection. These irregularities are interpreted as more human because we, as humans, are imperfect, and so as logic suggests, these faltering forms must be more representative of us. Only lines enriched by the human hand can deliver character and emotion, and be, without doubt, singularly expressive of the human condition.
However, if we look at this hand drawn line more closely, can we possibly also ask the question: is it really so uniquely human? Where have we seen something like this before? Could we not trace a similar path along the stem of a plant, the track of an animal, the cracks in a rock-face? The more one thinks about it, these ‘human’ lines are everywhere, from the bottom of the ocean to the surface of Mars. And so how can something so pervasive, and so indifferent to our existence, lay claim to being so essentially ‘human’?
If we were to look down at the Earth from above, where would we begin to search for signs of human life? Would we consider the path of a river or the contours of a mountain to be proof of our existence? Or would we be looking for something more akin to geometry? Or perhaps even that rarest of things, the perfectly straight line.